Du bist ein Gott, der mich sieht — Gedanken zur Jahreslosung

Du bist ein Gott, der mich sieht — Gedanken zur Jahreslosung

Der Zug fährt mit gewaltiger Verspätung in den Tübinger Hauptbahnhof ein und Alles drängt zur Tür, die von einer älteren Dame im Rollstuhl blockiert ist. Ich bin genervt und quetsche mich schließlich mit der Menschenmasse durch die endlich freie Tür nach draußen. In der Unterführung kommt mir ein Mann mittleren Alters entgegen getorkelt, der von einer Duftwolke aus Alkohol, Erbrochenem und Urin umgeben ist. Angeekelt wende ich meinen Blick voller Verachtung ab und laufe mit möglichst großem Abstand vorbei. Etwa eine halbe Stunde später begegne ich in der Altstadt einem Flaschensammler mit vernachlässigtem Äußerem und erwische mich dabei, wie ich meinen Blick abwende und ihn gekonnt ignoriere. Ich bin schockiert, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Menschen innerlich abwerte, ihnen ihre Würde abspreche und sie „übersehe“.

Auch Hagar ist ihr ganzes Leben lang so eine übersehene Person. Als Sklavin hat sie kein Recht, eine eigene Persönlichkeit zu haben. Sie wird wie ein Gegenstand behandelt und letztlich auch als Leihmutter missbraucht, um den Kinderwunsch ihrer Besitzer Abram und Sarai zu erfüllen. Mit ihrer Schwangerschaft bekommt Hagar wahrscheinlich das erste Mal wirklich Aufmerksamkeit, die sich jedoch hauptsächlich in Neid von Seiten Sarais äußert. In ihrer Verzweiflung sucht sie letztlich das Weite und flieht in die Wüste. Völlig erschöpft und niedergeschlagen macht Hagar an einer Wasserstelle eine Pause. Ihre Gedanken drehen sich um ihre aussichtslose Zukunft. Wo wird sie Zuflucht finden? Wie wird sie es schaffen, sich schwanger alleine durchzuschlagen und später für ihr Kind sorgen zu können? Plötzlich wird sie aus ihren Gedanken gerissen, sie, die immer übersehene Sklavin wird bei ihrem Namen gerufen. Da ist jemand, der sich für sie interessiert und sogar ihren Namen kennt! Sie klagt dem vor ihr stehenden Engel ihr Leid und bekommt einen wenig erfreulichen Auftrag – sie soll zu Sarai und Abram zurückkehren und erfährt außerdem, dass ihr Sohn als heimatloser Nomade kein einfaches Leben haben wird. Das sieht nach einer ziemlich düsteren Zukunft aus! Doch für Hagar hat sich ihr Leben völlig verändert – sie hat durch einen Blick ihre Würde zurückbekommen. Hoffnungsvoll kann sie den ersten Schritt in ihre düstere Zukunft wagen, denn da ist ein Gott, der sie sieht.

Ein Gott, der die Übersehenen sieht – das zieht sich durch die Bibel. Auch Jesus wendet sich vor allem den Menschen am Rande der Gesellschaft zu – er hat keine Berührungsängste und verbringt Zeit mit Aussätzigen, Prostituierten, Zöllnern, Kindern, … Er sieht ihre Sorgen und Probleme und schenkt ihnen sein Interesse – und einen liebevollen Blick, der einer übersehenen Person ihre Würde zurückgibt.

Wo nimmst Du von der Gesellschaft übersehene Personen wahr? Wie gehst Du mit ihnen um? Welche Personen(gruppen) übersiehst Du persönlich? Fühlst Du dich manchmal selbst übersehen und spürst tief in Dir den Wunsch, gesehen zu werden?

Ich wünsche Dir die Fähigkeit, die Würde aller Menschen zu sehen und ihnen bewusst mit einem liebevollen Blick zu begegnen. Und für Momente, in denen Du Dich übersehen fühlst, das Wissen um deine Würde — da ist ein Gott, der Dich sieht!